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11. November 2021

Die Gletscher schmelzen

RWE, Shell und andere Unternehmen werden wegen ihrer klimaschädlichen Emissionen verklagt – zunehmend mit Erfolg.

Als Saúl Luciano Lliuya eines Morgens den Berg erklimmt, meint er zu spüren, dass sich etwas verändert. Sein ganzes Leben lang haben sich Gletscher zwischen die Gipfel geschmiegt, rund um seine Heimatstadt Huaraz in den peruanischen Anden. „Jetzt kann man es sehen“, sagt er. „Sie verschwinden.“

Ungefähr 30 bis 50 Prozent der Gletscher in den tropischen Anden sind seit 1976 geschmolzen. In Lliuyas Region fließt das Wasser in den Palcacocha-See, der nur wenige tausend Meter von der Stadt Huaraz entfernt liegt. Als 1941 ein riesiger Gletscherbrocken abbrach und in den See stürzte, löste er eine Welle aus, die 1.800 Menschen in den Tod riss. Der Pegel des Sees ist heute höher als damals. Jetzt leben 50.000 Menschen im voraussichtlichen Weg des Wassers.

Nach wissenschaftlichen Schätzungen ist RWE für knapp 0,5 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen im Zeitraum von 1751 bis 2010 verantwortlich. Lliuya verklagt den Konzern deshalb Ende 2015 auf Erstattung von Kosten für Schutzmaßnahmen, um eine mögliche Flutwelle abzuwehren. Denn RWE sei mit schuld daran, dass die Gletscher in den Anden schmelzen.

10.000 Kilometer lange und jahrhundertealte Kausalketten

Die Klage wurde als gutmenschliche Träumerei durchgedrehter Öko-Fundamentalisten belächelt und vom Landgericht Essen im Dezember 2016 auch kurzerhand abgewiesen. RWE sei mangels „äquivalenter und adäquater Verursachung“ kein „Störer“, der Lliuyas Eigentum beeinträchtige.

„Jeder Mensch ist Emittent, mehr oder weniger“, sagen die Richter. „Wenn zahllose Groß- und Kleinemittenten Treibhausgase freisetzen, die ununterscheidbar miteinander vermischt werden, sich gegenseitig verändern und über einen hochkomplexen Naturprozess eine Klimaänderung hervorrufen, dann lässt sich eine Verursachungskette von einer bestimmten Emissionsquelle zu einem bestimmten Schaden nicht mehr ausmachen. […] Angesichts der Millionen und Milliarden von Emittenten weltweit sind die Emissionen von RWE nicht derart bedeutend, dass die Flutgefahr bei Wegdenken der Emissionen von RWE nicht existieren würde.“

Lliuya sieht das ganz anders: Nur weil besonders viele etwas verursacht haben, heißt das nicht, dass keiner mehr verantwortlich ist. Jede Tonne Emissionen trägt ein Stück weit zum Klimawandel bei und verstärkt – wenn auch nur ein wenig – die Flutgefahr. Lliuya legt deshalb Berufung ein.

Derweil sind im Frühjahr 2021 der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts und das Urteil des Bezirksgerichts in Den Haag gegen Shell ergangen. Und spätestens jetzt ist den meisten das Lachen über Lliuyas Klage vergangen.

Intertemporale Freiheitssicherung

Das Bundesverfassungsgericht hat am 24. März 2021 entschieden: Das deutsche Klimaschutzgesetz verschiebt die Lasten der Emissionsminderung zu sehr auf Zeiträume nach 2030 und muss deshalb nachgebessert werden. Begründung: Das Grundgesetz verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Verfassungsrechtlich verbindlich ist das Pariser Ziel, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen. Auf Grundlage des globalen Restbudgets an Emissionen ist dann ein nationales Restbudget zu ermitteln. Der deutsche Sachverständigenrat hat das auf Basis eines weltweiten Pro-Kopf-Emissionsrechts getan. Und dann kommen die beiden Kernsät­ze der Entscheidung:

„Es darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO 2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. […] Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der Treibhausgasminderungslast in die Zukunft.“

Verteilung von Freiheitsrechten

Das ist eine ganz neue Welt. Bei Kant hieß es noch (wenn auch vertrackter formuliert): Jeder kann tun und lassen, was er will (Degen fechten, Kutsche fahren, ins Theater gehen), solange er keinem anderen Schaden zufügt. Das ist die Grundlage des liberalen Rechtsstaats. Jetzt schränkt aber praktisch jeder Freiheitsgebrauch des einen (Bitcoin schürfen, Autofahren, TikTok schauen) den Freiheitsgebrauch des anderen ein. Das Emissionsbudget wird immer knapper und muss verteilt werden.

Und zwar eben auch in zeitlicher Hinsicht. Man kann nicht alle Süßigkeiten sofort aufessen, sondern muss noch etwas für die Kinder und Kindeskinder übrig lassen. Das Bundesverfassungsgericht sieht in den Grundrechten einen Schutz gegen den kurzsichtigen politischen Betrieb: „Der Umweltschutz ist eine Angelegenheit der Verfassung, weil ein demokratischer Prozess über Wahlperioden kurzfristiger organisiert ist, damit aber strukturell Gefahr läuft, schwerfälliger auf langfristige ökologische Belange zu reagieren und weil die besonders betroffenen künftigen Generationen heute keine eigene Stimme im politischen Prozess haben.“

All das wirft viele Fragen auf. Ist das Budget eines Kindes in 20 Jahren genauso groß wie das eines Erwachsenen heute? Und das Budget der ungeborenen Kindeskinder? Und so weiter und so fort, bis in alle Unendlichkeit? Und warum soll ein Deutscher ein genau gleich großes Budget haben wie ein Afrikaner? Die Afrikaner haben bislang kaum etwas zum Klimawandel beigetragen, die Deutschen in den letzten 150 Jahren sehr viel. Gilt nicht eigentlich der Grundsatz: Wer den Dreck verursacht hat, muss ihn auch wegmachen?

Die Drittwirkung der Menschenrechte

Das Bezirksgericht von Den Haag geht noch einen Schritt weiter. In seiner Entscheidung vom 26. Mai 2021 verurteilt es Shell, seine globalen Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 zu reduzieren. Das Urteil ist eine Sensation und kann in seiner Tragweite gar nicht überschätzt werden.

Das Gericht argumentiert so: Zwar verpflichten die Menschenrechte und internationale Grundsätze wie das Pariser Ziel in erster Linie den Staat und gelten nicht direkt gegenüber Privaten. Die Menschenrechte und internationale Grundsätze werden aber bei der Interpretation von Generalklauseln im Zivilrecht bedeutsam, wenn es um die Frage geht, ob jemand in unerlaubter Weise die Rechtsgüter eines anderen beeinträchtigt. Shell muss mehr tun, als der Gesetzgeber bisher verlangt, um irreparable Schäden von der niederländischen Bevölkerung abzuwenden.

Die Kritik an dem Urteil ließ nicht lange auf sich warten. Die Nachfrage nach Öl- und Gasprodukten werde nicht sinken, wenn Shell seine Emissionen reduziere – die Verbraucher würden einfach zur Konkurrenz wechseln.

Shell hat selbst argumentiert, Richter könnten nicht am demokratischen Prozess vorbei entscheiden, wer wie viel Emissionen mit welchen Mitteln reduzieren sollte. Könne denn jetzt jeder jeden verklagen? Die Politik müsse auf nationaler und insbesondere internationaler Ebene genau regeln, was zu tun sei.

Klar ist aber auch, dass die Politik bislang kaum etwas gemacht hat. 1965 informierten Wissenschaftler den damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson über den Klimawandel. Seitdem ist nicht viel passiert – im Gegenteil, die Emissionen steigen jedes Jahr. Selbst wenn die Staaten ihre aktuellen Versprechen halten, wird das Pariser Ziel aller Voraussicht nach weit verfehlt. Menschen wie Lliuya warten bislang vergeblich auf eine wirksame Klimapolitik.

Mit den Entscheidungen aus Karlsruhe und Den Haag stehen seine Chancen nun nicht mehr ganz so schlecht. Die Richter des Oberlandesgerichts Hamm wollen sich das genau anschauen und nach Huaraz reisen. Lliuyas Klage hat mittlerweile ein weltweites Medienecho gefunden: Es ist die klassische David-gegen-Goliath-Geschichte, die dem abstrakten Thema Klimawandel ein Gesicht gibt.

Und RWE und Shell sind längst nicht mehr allein. Die Klagen gegen Volkswagen, Mercedes-Benz und BMW sind eingereicht.

 
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