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11. November 2021

Der gerechte Preis

Die spanische Regierung bekämpft die hohen Strompreise. Das geht zulasten der Erneuerbaren Energien und wirft eine Menge rechtlicher Fragen auf.

Man könnte denken, die Beamten in Madrid hätten in der Bibliothek des Ministeriums Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ beiseitegeschoben und von tief hinten im Regal die verstaubten Bücher der spanischen Scholastiker aus dem sechzehnten Jahrhundert hervorgeholt. Dort heißt es nämlich:

„Es gibt einige Sachen, die für den reibungslosen Ablauf der Dinge und für das Leben notwendig sind, und für sie kann man nicht mehr verlangen, als sie wert sind … Es ist, als ob jemand, auf einem Weg in Not geraten, um Wein zum Trinken bittet, und der andere ihm den Wein nur für zwanzig Dukaten geben will, obwohl er doch bloß zehn wert ist. Der Verkäufer sündigt tödlich und muss dem Käufer das zu viel gezahlte Geld zurückgeben, denn obwohl der Käufer gekauft hat, weil er es wollte, war seine Entscheidung doch nicht freiwillig.“ (frei nach Francisco de Vitoria)

Hier geht es zwar nicht um Wein, sondern um Strom, aber der ist fast genauso wichtig für den reibungslosen Ablauf der Dinge. Am 14. September 2021 erließ die spanische Regierung das Dekret 17/2021, mit dem sie Produzenten von Erneuerbaren Energien verpflichtet, einen erheblichen Teil des Preises, den sie an der Strombörse erzielen, an den Netzbetreiber zu zahlen. Die Ausgleichszahlungen sollen dazu dienen, die Netzentgelte niedrig zu halten und damit Verbraucher und Unternehmen zu entlasten. Statt der unsichtbaren Hand von Angebot und Nachfrage bestimmt jetzt also die spanische Regierung, wie der angemessene Preis aussieht. Bis zum 31. März 2022 soll die Maßnahme gelten.

Die sichtbare Hand des Staates

Anlass des Dekrets sind die Börsenpreise für Strom, die sich immer weiter in die Höhe schraubten. Im März 2021 lagen sie in Spanien im Durchschnitt noch bei unter 30 Euro/MWh, im September 2021 bei über 150 Euro/MWh. Schuld daran sind die exorbitanten Gaspreise, zu einem geringeren Teil auch die gestiegenen Preise für Emissionszertifikate. Das brachte Verbraucher und Industrie auf die Barrikaden und setzte die Regierung unter Druck.

Um ihre Zwangsabgabe zu rechtfertigen, argumentiert die spanische Regierung deshalb ganz ähnlich wie Francisco de Vitoria: Es gehe darum, „exzessive Preise“ zu korrigieren, die Rentabilität auf ein „vernünftiges Maß“ zu reduzieren und einen „gerechten Preis“ zu garantieren. Was aber ist der gerechte Preis?

Das fragten sich auch die Stromproduzenten, die sich über diesen heftigen Eingriff in den Markt lautstark beschwerten. Insbesondere deshalb, weil das Dekret selbst solche Wind- und Solarparks zur Abgabe verpflichtete, die den Strom gar nicht zu den hohen Börsenpreisen, sondern über ein Power Purchase Agreement (PPA, ein langfristiger Stromliefervertrag) zu einem (niedrigeren) Festpreis verkaufen. Das führte zu dem absurden Ergebnis, dass ein Produzent unter Umständen mehr an den Netzbetreiber zahlen musste, als er unter dem PPA bekam. Keiner wollte mehr PPAs abschließen, was wiederum Erneuerbare-Energien-Projekte in Spanien unfinanzierbar machte – ohne langfristige Vergütungssicherheit kein Darlehen.

Die spanische Regierung hat deshalb mit einem Dekret vom 26. Oktober 2021 nachgebessert: Strom, der zu einem Festpreis über ein PPA verkauft wird, ist grundsätzlich von der Regelung ausgenommen.

Was dennoch bleibt, ist eine komplizierte Abgabenregelung zulasten des Stroms aus Erneuerbaren Energien, der über die Börse verkauft wird. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Abgabe mit EU-Recht vereinbar ist.

Opportunitätskosten und Zufallsgewinne

Allerdings wird die Regelung wohl nicht unter die EU-Beihilfenkontrolle fallen, weil sie alle Verbraucher begünstigt und nicht eine bestimmte Gruppe von Unternehmen. Die Regelung dürfte daher nicht spezifisch genug sein, um im Sinne des EU-Rechts als Beihilfe zu gelten. Allgemeine Regelungen des Marktes müssen nicht vorab bei der Europäischen Kommission als Subvention angemeldet werden.

Es gibt auch bereits ein Urteil, in dem der Europäische Gerichtshof feststellte, dass eine ganz ähnliche Preisregulierung der spanischen Regierung nicht gegen EU-Recht verstieß (Urteil vom 17. Oktober 2013, Aktenzeichen: C-566/11). In dem Fall ging es darum, dass Produzenten die Kosten für Emissionszertifikate in ihre Strompreise einkalkulierten und an die Verbraucher durchreichten.

Hintergrund war folgender: In Spanien (wie auch in vielen anderen Ländern) wird der Strompreis auf Großhandelsebene durch eine Auktion bestimmt. Der Preis, der durch die Auktion ermittelt wird, entspricht dem teuersten Angebot, das berücksichtigt werden muss, um die Nachfrage für den fraglichen Zeitraum vollständig zu befriedigen. Diesen Preis erhalten alle Produzenten, deren Angebote berücksichtigt werden – auch die Produzenten, die deutlich günstigere Angebote abgeben. Das teuerste Angebot stammt in der Regel von Gas- und Dampfkraftwerken, die in ihr Gebot die Opportunitätskosten einpreisen, die dadurch entstehen, dass sie die Emissionszertifikate nicht verkaufen, sondern selbst verbrauchen. Davon profitieren dann auch alle anderen Produzenten, weil sich der Strompreis für alle entsprechend erhöht.

Der spanischen Regierung passten diese „Zufallsgewinne“ nicht; die Produzenten sollten die Kosten für die Zertifikate tragen, nicht die Verbraucher. Sie verpflichtete daher in den Jahren 2006 und 2007 die Produzenten zu einer Abgabe, mit der die Stromvergütung um den entsprechenden Preis für Zertifikate reduziert wurde.

Der Europäische Gerichtshof verwies darauf, dass im EU-System des Emissionshandels die Zertifikate zunächst – um die emittierenden Unternehmen nicht zu sehr zu belasten – umsonst verteilt wurden. Die emittierenden Unternehmen konnten dann (wegen fehlenden wettbewerblichen Drucks am Strommarkt) den Wert der Zertifikate als Opportunitätskosten an die Verbraucher weitergeben.

Das EU-System des Emissionshandels setze aber nicht voraus, dass die Produzenten die Opportunitätskosten für Zertifikate an Verbraucher weiterreichen könnten, urteilte der Gerichtshof. Die spanische Abgabe verstieß deshalb nicht gegen die Richtlinie zur Einführung des Emissionshandels.

Die aktuelle Preisregulierung erinnert an diesen Fall, ist aber nicht identisch. Die spanische Regierung will mit ihrer aktuellen Abgabe nämlich nicht nur die Preiserhöhungen wegen der Emissionszertifikate, sondern vor allem die Preiserhöhungen wegen der gestiegenen Gaspreise abschöpfen. Zudem werden mittlerweile die Emissionszertifikate im EU-System überwiegend nicht mehr kostenfrei ausgegeben, sondern über ein Auktionssystem versteigert.

Wider den Geist des Liberalismus

Der einschneidende Eingriff durch das spanische Dekret steht auch im Kontrast zu den jüngsten Liberalisierungsrichtlinien für den Strommarkt. Wenn es um den Binnenmarkt geht, hält Brüssel wenig von Preisregulierungen. Der Strompreis soll sich nach Angebot und Nachfrage richten, Preisfestsetzungen gelten als wettbewerbsverzerrend. Sie sind nur im Ausnahmefall zulässig und müssen zeitlich begrenzt, verhältnismäßig und diskriminierungsfrei sein.

Die Europäische Kommission hat in ihrer Meldung vom 13. Oktober 2021 eine Reihe von Maßnahmen vorgestellt, wie Mitgliedsstaaten auf die Energiekrise reagieren sollten. Direkte Festlegungen des Preises sind darunter nicht zu finden. Energiekommissarin Simson lässt die spanische Regelung derzeit untersuchen. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Anhänger von Adam Smith oder Francisco de Vitoria durchsetzen werden.

 
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